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Warum Innovation heute riskanter ist denn je


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In der Luft, zu Wasser und auf den Straßen, wo sich nun auch autonome Fahrzeuge bewegen, sehen wir heute immer komplexere Probleme. Es vergehen teilweise Monate, bis die eigentlichen Ursachen dieser Störereignisse, die in Unterbrechungen des Geschäftsbetriebs münden und auch den Shareholder Value in Mitleidenschaft ziehen können, gefunden sind. Das gilt insbesondere dann, wenn die zugrunde liegende Technologie noch neu ist. Man könnte auch argumentieren, dass es sich dabei eigentlich um eine einzige Ursache handelt, die so alt ist wie der Erfindergeist der Menschheit selbst: Innovation. So sehr sie auch gewünscht ist: Innovation hat oft unbeabsichtigte Folgen.

„So sehr sie auch gewünscht ist: Innovation hat oft unbeabsichtigte Folgen.“

Dr. Louis Gritzo, Vice President and Manager of Research, FM Global

 

Im Jahr 2022 geht es bei den Neuentwicklungen oft um auf digitalen Anwendungen basierende Technologien für Unternehmenszwecke, die in den Bereichen Transport, Robotik, erweiterte Realität sowie Fernüberwachung und Fernbetrieb von Industrieanlagen mit der physischen Welt interagieren. Solche herausragenden technologischen Entwicklungen sind der Heilige Gral erfolgreicher Geschäftstätigkeit. Sie bescheren Unternehmen häufig große Gewinne. Dabei liegt das Augenmerk aber typischerweise ausschließlich auf der einfachen Gegenüberstellung der möglichen zu erreichenden Umsätze und der Implementierungskosten.

Unvorhergesehene Schwierigkeiten, die das Unternehmen anschließend mit Wucht treffen können, werden in dieser Ergebnisrechnung nicht berücksichtigt. Betrachtet man jedoch verschiedene Ereignisse, die verheerende Folgen hatten, so zeigt sich in vergleichsweise vielen Fällen, dass dabei die zum jeweiligen Zeitpunkt „modernste und beste Technologie“ zum Einsatz kam. Derartige folgenreiche Ereignisse sind, so die allgemeine Klassifizierung, das Ergebnis technologischer Risiken, d. h. Risiken bedingt durch Störungen an vom Menschen geschaffenen Systemen.

Diese Risiken können in den in der Versicherungs- und Finanzbranche vielfach eingesetzten versicherungsmathematischen Modellen nicht angemessen berücksichtigt werden. Denn diese Modelle basieren naturgemäß auf Erfahrungswerten aus der Vergangenheit und konzentrieren sich damit auf eine Zeit vor der Einführung der betreffenden neuen Technologie. Daraus ergibt sich eine weitere Hürde für innovativ aufgestellte Unternehmen: Für die Risiken in Zusammenhang mit technischen Neuerungen lässt sich ein Risikotransfer im Wege der Versicherung nur schwer und mit hohem Kostenaufwand erreichen. (Natürlich sind Innovationen in der Versicherungsbranche ebenfalls von diesen Risiken betroffen.)

Ein immer häufiger auftretendes Element von Technologierisiken ist das Risiko durch eine Störung bei der zugrunde liegenden digitalen Komponente mit Folgen für das mechanische System. Ein sehr anschauliches Beispiel hierfür sind Softwareprobleme bei autonomen Fahrzeugen. Eine weitaus größere Rolle spielt jedoch die Automatisierung von physischen Verfahren und Finanzprozessen in Unternehmen, die sich in sehr schnellem Tempo vollzieht. Zusammenstöße von Industrierobotern untereinander und/oder Kollisionen mit anderen Lagerkomponenten sind Fälle aus der Praxis, bei denen derartige Störungen eine Rolle spielen. Zu den Negativbeispielen aus der Vergangenheit zählen schwerwiegende Ausfälle von Stromversorgungs- und Finanzsystemen, bei denen die Folgen weit über das eigentliche betroffene System hinausreichten.

Technologische Risiken können durch Elementarrisiken noch verschärft werden und sich in sogenannten Natech-Risiken niederschlagen. Ein Elementarereignis kann dabei als Auslöser fungieren oder die negativen Folgen einer eingetretenen technischen Störung verstärken. In ganz besonderer Deutlichkeit zeigte sich dies 2011 beim Tōhoku-Erdbeben in Japan. Hier kam es in der Folge zu einem Tsunami und beispiellosen finanziellen Schäden. Natech-Risiken können sich für Unternehmen beispielsweise in Form von Blitzeinschlägen äußern, durch die digitale Verarbeitungs- und Steuerungssysteme beschädigt werden. Wind-/Hagelschäden an Solarpaneelen oder Windturbinen, die zu Stromausfällen und Betriebsunterbrechungen führen, wären weitere Beispiele, wobei die Schäden hier eher mechanischer Art sind.

Aufgrund der engen Vernetzung der betreffenden Komponenten zeigen sich bei derartigen Schäden immer häufiger Folgen, die weit über das eigentliche System hinausgehen. Der Geschäftsbetrieb kann über Monate hinweg zum Stillstand kommen. Unternehmen können sich so auch mit möglichen Umsatzeinbußen, Reputationsschäden, Marktanteilsverlusten und einem schwindenden Vertrauen seitens der Anteilseigner konfrontiert sehen. Damit hätte die neue Technologie alles andere als das gewünschte Ergebnis.

Gesetzliche Vorschriften und Standards: Einführung stets mit Verzögerung und teils mit unzureichendem Regelungsinhalt

Technologische Risiken sind heutzutage vor allem deshalb so verbreitet, weil die neuesten digitalen und automatisierten Technologien zahlreiche potenzielle Fehlerquellen aufweisen: Hardware, Software, Stromversorgung/Wechselrichter, Batterien, Ladesysteme sowie verschiedene brennbare Materialien, die mehr und mehr mit dem Ziel der Gewichtsreduktion zum Einsatz kommen.

Wie lassen sich technologische Risiken also reduzieren? Langfristig lässt sich dies durch die Einführung von Branchenstandards und gesetzlichen Bestimmungen erreichen. Da Innovationen allerdings schon definitionsgemäß brandneu sind, gehen sie Standards und Bestimmungen zur Regulierung der technischen Zuverlässigkeit zeitlich stets voraus. (Dies ist bereits seit dem 19. Jahrhundert so, als Brände in Textilfabriken den Bedarf an industriellem Brandschutz verdeutlichten.)

Es können Jahre vergehen, bis globale Normungsorganisationen wie die ISO (Internationale Organisation für Normung) und das ANSI (American National Standards Institute), Organisationen mit regionalem Schwerpunkt wie die National Fire Protection Association oder Branchenorganisationen wie das American Petroleum Institute einheitliche Standards entwickelt haben. Diese Organisationen sind auf einen Konsens von Expertinnen und Experten aus allen beteiligten Interessengruppen – zum Beispiel Anwender, Hersteller, OEMs, Berater, Regierungen, Sicherheitsstrukturen – angewiesen, um festzulegen, was erforderlich und praktikabel ist. Zwar können Behörden wie die US-Luftfahrtbehörde FAA auch ohne den Normierungsvorschlag einer solchen konsensbasierten Organisation Bestimmungen erlassen, dabei handelt es sich jedoch meist um Vorschriften, die erst in Reaktion auf ein Unglück eingeführt werden.

Da Standards und gesetzliche Vorschriften den Entwicklungen hinterherhinken, sind innovative Technologien, die frisch auf dem Markt sind, mit Risiken verbunden, bei denen mehr als nur Umsätze auf dem Spiel stehen. Unternehmen setzen sich damit auch einem deutlich größeren Risiko aus als abwartende Marktteilnehmer, die Schritte im Bereich von Innovationen erst einmal den Wettbewerben überlassen.

Vier Möglichkeiten zur Minimierung von innovationsbedingten Risiken vor der Einführung von Standards

Das heißt jedoch nicht, dass Unternehmen unbedingt vermeiden sollten, als Pionier am Markt zu agieren. Ergeben sich Innovationschancen, so sind einige zentrale Maßnahmen unerlässlich, um die Risiken bereits vor der Ausarbeitung konsensbasierter Standards und weit vor ihrer regulatorischen Kodifizierung anzugehen. Was können Sie also tun?

  • Verschaffen Sie sich einen Überblick. Führen Sie ein Unternehmen, so sollten Sie ermitteln, an welchen Stellen Ihr Unternehmen innovativ tätig ist, d. h., wo es entweder selbst neue Technologien entwickelt oder fremdentwickelte Lösungen implementiert. Klären Sie anschließend, wer sich mit der Ermittlung der damit verbundenen Risiken befasst und diese angeht. Wie sieht der Plan zur Reduzierung dieser Risiken aus? Besteht überhaupt ein Plan?
  • Erarbeiten Sie Ihre eigenen Standards. Wenden Sie sich so früh wie möglich und lange bevor Sie die Markteinführung einer innovativen Technologie oder die unternehmensinterne Implementierung planen, an entsprechende Expertinnen und Experten, die Sie im Hinblick auf mögliche unvorhergesehene Risiken beraten können. Dient Ihre neue Technologie beispielsweise der Automatisierung physischer Prozesse, könnten Sie Expertinnen und Experten aus den Bereichen Informatik, Robotik, Stromversorgung, Materialwissenschaft, Bautechnik, Versicherung und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz für die Beratung hinzuziehen. Auch die Einsatzleitung der örtlichen Feuerwehr könnte involviert werden. Nach der Unterzeichnung von Vertraulichkeitsvereinbarungen können Sie diesen Fachkräften Pläne und Zeichnungen des ersten Minimum Viable Products (MVP) zur Bewertung vorlegen. Es ist riskant, diesen Schritt zu überspringen. Denn auch Personen, die in ihrem Bereich über eine exzellente Fachkenntnis verfügen, können angesichts der hohen Komplexität moderner Systeme die Dinge nur selten allein, also ohne Input von außen, meistern.
  • Betrachten Sie Ergebnisse aus Wissenschaft und Forschung. Stützen Sie sich bei der Betrachtung von Technologien und der ersten Anwendungsfälle auf Daten aus der Praxis und konzentrieren Sie sich nicht zu sehr auf Computersimulationen, die das Roll-out unter realen Bedingungen bekanntlich nur schwer vorhersagen können. Bei vielen dramatischen Ereignissen standen genau solche Fehler im Zentrum. Nutzen Sie gute Computermodelle, um weitere Einblicke zu erhalten, aber verifizieren Sie diese Informationen unter realen Bedingungen, um sicherzustellen, dass diese Ergebnisse auch in der Praxis zutreffen.
  • Widmen Sie sich organisatorischen Schadenverhütungsprogrammen. Innovative Technologien ersetzen Personal. Dies gilt insbesondere für Arbeiterinnen und Arbeiter in Fabriken und Lagerhallen. Es sind also folglich weniger Personen vor Ort, die bei Problemen entsprechend eingreifen können. Zudem sind die Systeme und die bei einem Störfall anzuwendenden Lösungen oftmals komplizierter. Etwa ein Drittel der schwerwiegenden Schäden im Gewerbe- und Industriebereich ist auf einen erheblichen menschlichen Fehler zurückzuführen. In den meisten Fällen lag der Fehler darin, dass eine Person glaubte, „das Richtige“ zu tun. Schulungen, Übungseinheiten und Notfallpläne sind heute wichtiger denn je.

In den meisten Fällen lag der Fehler darin, dass eine Person glaubte, „das Richtige“ zu tun.

Dr. Louis Gritzo, Vice President and Manager of Research, FM Global

 

  • Vorsicht bei Interessenkonflikten. Letztendlich ist eine schnellstmögliche Einführung von Standards unerlässlich. Normungsorganisationen sind auf Vertreterinnen und Vertreter aus den jeweiligen Branchen angewiesen. Jedoch besteht die Gefahr, dass gewinnorientierte Unternehmen das Normierungsvorhaben aus Profitgründen und zulasten des Risikomanagements zu sehr in die eigene Richtung beeinflussen. Das konsensbasierte Entscheidungsverfahren, das bei allen angesehenen Normierungsorganisationen Anwendung findet, wurde aus guten Gründen etabliert.

Die meisten Unternehmen verfügen in der Regel über einen guten Prozess, um die Kosten und das Marktrisiko ihrer innovativen Technologien zu managen. Diejenigen Unternehmen, die bei neuen Technologien vorne dabei sind und dabei mit größter Umsicht und Agilität vorgehen, erzielen oft die besten Ergebnisse. Während der Pandemie sahen wir eine Beschleunigung bei neuen Entwicklungen, die uns mehr Industrieroboter zur Entlastung des Fertigungsprozesses (kein krankheitsbedingter Ausfall) brachten, die Arbeit aus dem Homeoffice vereinfachten und Über-Nacht-Lieferungen von Paketen in die Höhe schießen ließen. Unternehmen benötigen ebenso zuverlässige Verfahren für das Management der technologischen Risiken.

Mit einer sorgfältigen Risikoermittlung und ‑minderung im Rahmen eines durchdachten Innovationsprozesses bestehen weniger Hürden für eine Implementierung und auch die bösen Überraschungen in der weiteren Folge lassen sich so reduzieren.

Ursprünglich auf Englisch im Forbes-Magazin erschienen.

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